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Rudolf Steiner Pädagogik

Zusammenfassung von Tom Rumpe

Grundzüge der Rudolf Steiner Pädagogik

Die Rudolf Steiner-Pädagogik sieht das umfassende Ziel von Erziehung und Bildung in der Entwicklung des Menschen zu einer freien und selbstbestimmten Persönlichkeit. Im Sinne von Pestalozzis Forderung nach einer «Menschenschule» soll die Pädagogik Hilfe zur Persönlichkeitsbildung sein.


Schule hat darüber hinaus immer auch eine soziale Bedeutung und Verantwortung im Sinne eines gesellschaftlichen Auftrags. Neben dem Erwerb der  Kulturfähigkeiten, welche das Berufs- und Wirtschaftsleben fordert, verfolgt die Rudolf Steiner-Pädagogik als ebenbürtige Lernziele die Charakterbildung, die Entwicklung moralischer Kräfte und die Gemütsausbildung der jungen Menschen. Die Fragestellung ist dabei nicht primär: was braucht der Mensch zu wissen und zu können, sondern ebenso: was ist in ihm veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden, damit der bestehenden sozialen Ordnung neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zugeführt werden können?

Die Rudolf Steiner Schulen setzen neben der Vermittlung von Wissen und dem Erwerb von gezielten Fähigkeiten, Wert auf die Förderung und Entwicklung emotionaler, sozialer und handlungsorientierter Kompetenzen.


Sie verstehen Eltern und Lehrer in verstärktem Masse als Erziehungspartner. Vielfältige Möglichkeiten zur intensiven Zusammenarbeit und regelmässige Schulanlässe, welche den Eltern Einblicke ins Schulgeschehen ermöglichen, sind Ausdruck dieser Partnerschaft.

Charakteristische Elemente der Rudolf Steiner Pädagogik

  • Lehrplan und Methodik des Unterrichts werden den Entwicklungsstufen und der Seelen-, und Temperamentslage der Kinder angepasst. Gewisse Leistungsnormen werden also nicht unabhängig von der individuellen Entwicklungssituation des Kindes auf Biegen und Brechen eingefordert. Der Lehrer ist vertraut mit den menschenkundlichen Entwicklungsstufen des jungen Menschen und achtet darauf, das Kind altersgerecht zu fördern, indem er keine Leistungen und Fertigkeiten vor der dazu nötigen Entwicklungsreife verlangt und möglichst keine zur Entfaltung drängenden Anlagen des Kindes unterdrückt. Die Lerninhalte ergeben sich aus der Einsicht in die altersgemässen Fähigkeiten und Bedürfnisse des Kindes. 
     

  • Der Unterrichtsstoff soll nicht oberflächlich abfragbares Wissen bleiben, sondern ist auch ein Werkzeug um die moralisch-geistigen Kräfte im Schüler zu wecken und zu pflegen. Dazu wird der Stoff künstlerisch und in einem methodischen Dreischritt (Beobachtung, Beschreibung, Urteil) vermittelt. So können die Inhalte tiefer als nur in die Verstandesebene eindringen und Denken, Fühlen und Wollen gleichermassen berühren. Nicht auf ein abstraktes, für alle gleiches Ausbildungsziel wird hingearbeitet, sondern auf die Erstarkung der ganz individuellen Besonderheiten. Veranlagte Kräfte sollen gefördert, Schwächen und Einseitigkeiten ausgeglichen werden.
     

  • Intellektuelle, manuelle und künstlerische Fächer werden gleich bewertet, damit das Kind in all seinen Anlagen und Kräften gefordert wird. So wirken sich individuelle Begabungsschwerpunkte (mehr intellektuelle oder manuell-künstlerische Begabung) nicht nachteilig aus. Die Schüler erleben ihre Unterschiedlichkeit als eine gegenseitige Ergänzung, was auf sie anspornend wirken kann. 
     

  • Es besteht kein Prüfungsdruck mit einzelner Benotung, welcher die Schüler höheren oder minderwertigen Kategorien zuordnet. Tests und die Zeugnisnoten dienen als Standortbestimmung für das Kind und sein Umfeld.
     

  • Der fehlende Prüfungsdruck befreit das Kind vom Gefühl abstrakten Massstäben gerecht werden zu müssen und eröffnet ihm einen Raum, in welchem es sich, seiner individuellen Eigenart gemäss, entfalten kann. Die Zeugnisse legen das Hauptgewicht auf eine ausformulierte Standortbestimmung, welche eine differenzierte Entwicklungshilfe sein soll.

Welche Elemente der Rudolf Steiner Pädagogik erweisen sich im Sonderschulbereich als hilfreich?

Das wirksame Wechselverhältnis von Inhalt des Unterrichts und Förderung des Kindes gehört zu den Fundamenten der Pädagogik Rudolf Steiners. Die grundsätzliche Haltung mit der diese Pädagogik dem jungen Menschen gegenübertritt ist die Absicht, nichts«hineintun» zu wollen, sondern «wachzurufen» und zur Entwicklung zu bringen, was die junge Seele in sich trägt. 

Die Störungsbilder, welche die sonderschulbedürftigen Kinder und Jugendlichen mitbringen, werden als Ausdruck unvollständig gebliebener Entwicklung betrachtet. Dabei ist der Blick nicht primär symptomorientiert, sondern die pädagogische und medizinisch/therapeutische Betrachtung fragt danach, was sich durch die Symptome ausdrückt und wo (in den physischen und psychischen Reifungsvorgängen) die Entwicklung gestört oder zurückgeblieben ist. Dieses intensive Ringen um die Erfassung des einzelnen Schülers ist Inhalt der wöchentlichen pädagogischen Konferenz an allen Rudolf Steiner Schulen. Grundlage bildet eine ausführliche Diagnostik, die nach pädagogischen ebenso wie unter medizinisch-menschenkundlichem und therapeutischem Blickwinkel im Rahmen einer Kinderbesprechung erfolgt.

Die Rudolf Steiner-Pädagogik ist eine Verständnispädagogik. Sie geht von einem genauen, mitfühlenden Beobachten des werdenden Menschen aus. Sie hat eine den Lehrenden schulende Art, auf das Kind, wie es sich entwickelt, immer besser einzugehen, mitzufühlen und mitzuverstehen, was die Heranwachsenden bewegt.
Diese pädagogische und didaktische Erziehungs- und Unterrichtspraxis basiert auf einer ständigen inneren Weiterbildung der Lehrperson in Menschenerkenntnis.
Die einzelnen Lehrer bilden miteinander eine Lehrergemeinschaft, die sich in diesen Fragen wöchentlich austauscht. Ebenso sucht jeder Lehrer ein vertrauensvolles Sich-Verbinden mit den Eltern des Kindes.

Persönlichkeitsbildung bedarf neben der Begegnung mit Stoffinhalten und Programmen einer Begegnung mit Menschen. Der Lehrplan ist nicht vom Stoff her, sondern vom Kind und seinen Bedürfnissen konzipiert. Es soll an den Inhalten Kräfte schulen und entwickeln.
Der Lehrer ist dem Schüler über einige Jahre hinweg eine ihn begleitende Autorität und Persönlichkeit. Aus einem Verständnis für den Einzelnen ist er bemüht, Prozesse zu begleiten und Einseitigkeiten auszugleichen, indem Schwächen und Unvermögen durch erworbene Fähigkeiten gestützt werden können.
Neben dem Erwerb von Fertigkeiten und Wissen wird der Persönlichkeitsbildung genügend Raum eingeräumt durch die Anregungen und Schulung verschiedener Fähigkeiten wie Phantasiekraft, Wahrnehmungsfähigkeit, Kreativität, Willenskraft oder Sozialkompetenz. 

Lange Übungs- und Anwendungsphasen sowie übergreifende Projekte (Theateraufführungen, Chorprojekte) sind innerhalb des Lehrplans möglich. Im Dreischritt Üben-Anwenden-Handelnkönnen kann der/die Lernende motiviert werden. Fehler sollen als Freund des Lernens erfahren werden und nicht Druck und Angst auslösen. 

Ziel ist es nicht, einen Rucksack voll Wissen für das Leben zu packen, sondern durch künstlerische, der Individualität des Kindes den nötigen Entwicklungsfreiraum gewährende, Unterrichtsmethoden den jungen Menschen zu lehren sich später vom Leben belehren zu lassen.

Die Wichtigkeit der Bewegung für die Lernfähigkeit ist heute erwiesen; unter anderem ihre Bedeutung für den Fähigkeitserwerb des logischen und vernetzten Denkens oder für die Willensertüchtigung. Die Rudolf Steiner Schulen tragen dieser Tatsache durch einen vielfältigen und differenzierten Einbezug von Bewegungselementen im Unterricht Rechnung.

Pädagogische Gesundheitsförderung hat heute eine grosse Aktualität und Notwendigkeit. Der Begründer der anthroposophischen Pädagogik, Rudolf Steiner sprach vom Erziehen und Unterrichten als einem «Heilen». Er tat dies nicht im Sinne einer Therapie von Störungen, sondern dahingehend, dass durch das Erziehen und Unterrichten die heilenden und gesunderhaltenden Kräfte im Kind unterstützt werden können. Die Rudolf Steiner Pädagogik will eine gesundheitsfördernde Pädagogik sein, die sich an den salutogenetischen (gesundmachenden) Bedingungen von Schule orientiert. Einige ihrer Grundelemente weisen darauf hin:

  • Förderung von gut und differenziert ausgebildeten Sinnesfähigkeiten als Grundlage eines gesunden Verhältnisses zur eigenen Leiblichkeit, zur natürlichen und zur mitmenschlichen Umwelt.
     

  • Förderung einer intakten rhythmischen Ordnung der Lebensfunktionen, welche nachweislich eng mit Gesundheit verbunden ist. Die künstlerische Unterrichtsmethoden, die Stundenplangestaltung, der Epochenunterricht oder das Feiern der Jahresfeste sind Elemente einer bewussten, gesundheitsfördernden Rhythmisierung des gesamten Unterrichts.
     

Die Rudolf Steiner Schulen kennen kein Sitzenbleiben, so bleibt eine Klasse oft ihre ganze Schulzeit beisammen. Der integrative Charakter der Steiner Schulen zeigt sich auch daran, das mancherorts jahrgangsübergreifende Klassen zusammen geführt werden. Daher ergeben sich nicht Klassenzusammensetzungen nach Begabungen und intellektuellen Fähigkeiten, sondern durchmischte Lerngruppen. Dabei können Entwicklungsunterschiede und Teilleistungsschwächen für das soziale Lernen genutzt werden und bereichernde wie kompensatorische Wirkungen entfalten. Unterschiede sollen wahrgenommen und respektiert werden.

Für den gemeinsamen Unterricht einer somit sehr individualistischen Klasse können also nicht in erster Linie die kognitiven Fähigkeiten des Einzelnen, sondern es muss das gemeinsame Erlebnisalter der Gruppe berücksichtigt werden. Ein ganzheitlicher Unterricht, der werkliche, künstlerische und kognitive Aspekte vereint, sowie ein projektorientierter und fächerübergreifender Ansatz dienen diesem Ziel.
Der «richtige» Stoff und die «richtige» Methode müssen gefunden werden, damit sich die Schüler erlebend mit dem Stoff verbinden und motiviert lernen können.

Für die Aufarbeitung von negativ geprägten Erfahrungen im sozialen wie emotional-affektiven Bereich durch prägende Erlebnisse des schulischen Misserfolges, der sozialen Ausgrenzung oder emotionalen Ausbeutung, bedürfen viele Schüler eines besonderen schulischen Rahmens.
Die methodische Grundforderung an die Lehrperson ist dabei ein «künstlerischer» und «ganzheitlicher», d.h. den ganzen Menschen ergreifender Unterricht. Wichtige Elemente sind beispielsweise das Anknüpfen an die Erwartungen und Fähigkeiten der Kinder, der Weg vom Tun zum Bild, vom Bild zum Begriff, Einbezug einer Vielfalt an Gefühlsstimmungen wie Freude, Trauer, Humor, Spannung und Entspannung in der Gestaltung des Unterrichts; Rücksicht auf die individuelle, psychische und physische Disposition des Kindes; oder die altersgemässe Gestaltung des Unterrichtsstoffes.

All diese Elemente, welche Anliegen der Rudolf Steiner Pädagogik sind, können solche Schüler in ihrer schulischen und persönlichen Entwicklung stützen und bestärken.
Die Sichtweise der Rudolf Steiner Pädagogik ist nicht vornehmlich defizitorientiert sondern geht gleichzeitig positiv davon aus, dass jede Einseitigkeit als Ausdruck einer (über)-Steigerung menschlicher Eigenschaften anzusehen ist und andere Eigenschaften fördernd hervorbringen kann.

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